Kapitel 5 – Guangzhou, Keywords und Kunstvitamine

Monday, September 8th, 2008 | Allgemein

Liegende Guanyin in buddhistischen Tempel von Guangzhou

Liegende Guanyin in buddhistischen Tempel von Guangzhou

In die Ecke verbissen, Drachenschmuck in Guangzhouer Tempel

In die Ecke verbissen, Drachenschmuck in Guangzhouer Tempel

Kirche auf der Shamian Insel Guangzhou

Kirche auf der Shamian Insel Guangzhou

Der Flussarm, der die Sandbank Shamian zur "Insel" macht

Der Flussarm, der die Sandbank Shamian zur

Jugendherberge mit Palmenblick und Hitzedunst in Guangzhou (36°C)

Jugendherberge mit Palmenblick und Hitzedunst in Guangzhou (36°C)

Eingang zum Büro im “Vitamine Creative Space” Guangzhou
Eingangssituation von Xu Tans Ausstellung "Keywords"
Eingangssituation von Xu Tans Ausstellung
Teil der Installation zu "Keywords" von Xu Tan
Teil der Installation zu
Videostill der Projektion "Keywords" von Xu Tan
Videostill der Projektion

5. September 2008

Als wichtigstes Utensil stellt sich in Guangzhou schnell der Regenschirm heraus, noch am Abend meiner Ankunft habe ich mir einen zugelegt, da vor allem Nachmittags der Dampfkessel zu ganz plötzlichen Sturzregen neigt, die auch länger andauern können.

Gegen die Mittagszeit mache ich mich endlich auf, nachdem sich herausstellt, dass es sich offensichtlich nicht lohnt, noch länger darauf zu warten, dass meine Handy- und Computerakkus geladen werden. Offensichtlich schwankt das Stromnetz hier so stark, dass das Aufladen nur unvollkommen und langsam vor sich geht, zumal ich noch mit Adaptern arbeiten muss. Ich steige am der Metrohaltestelle „Westliches Tor“ aus und finde schnell zum Tempel der „Kindlichen Glückseeligkeit“. Nebendran gibt es ein gutes vegetarisches Restaurant in dem ich meine ersten Guangdonger Maultaschen (Dim Sum) genieße. Die Tempelanlage ist anschließend schnell abgegangen, es handelt sich vorwiegend um eine Rekonstruktion des 19. Jahrhunderts und viele neu vergoldete Statuen, allerdings wirken die Besucher hier etwas vertiefter in ihrer Hingabe, als in Shanghai und es sind auch mehr Mönche zu sehen.

Guangzhou verfügt in Glaubenssachen übrigens über eine lange und sehr vielfältige Geschichte. Angeblich wurde die Stadt von einigen (taoistischen?) Unsterblichen gegründet, die auf Ziegen vom Himmel ritten, weshalb die Stadt umgangssprachlich kurz als „Yang“ = „Ziege“ bezeichnet wird.

Außerdem gibt es hier noch eine groessere muslimische Moschee mit einem Minarett, das der Volksmund „glatter Turm“ taufte, weil es nicht verziert ist. Gründer ist angeblich sogar der Onkel von Mohammed namens Abu Waquas (ich hab die Schreibweise nicht mehr ganz drauf).

Christliche Kirchen findet man hier auch einige, sogar eine auf Shamian selbst. Das Pearlriverdelta um Guangzhou hat als großes Seehafengebiet schon früh mit fremden Ländern in Handelsbeziehungen gestanden und vor allem die Protugiesen scheinen hier tätig gewesen zu sein.

Dann führt mich die sehr moderne Metro in den Südosten der Stadt, wo der einzige alternative Kunstraum in dieser Megametropole zu finden ist: „Vitamine Creative Space“. Ich habe mit Hu Fang, dem Gründer, einen Interviewtermin, der zum Glück auch stattfindet, obwohl sie ganz kurzfristig zwei Stunden später eine Vernissage des Künstlers Xu Tan anberaumt haben und um uns herum noch fleissig aufgebaut wird. Hu Fang ist ein sympathisch nachdenklicher und seine Gedanken und Worte genau abwägender Mittvierziger (wenn ich da richtig liege). Er hat ursprünglich als Journalist gearbeitet und dann zusammen mit seiner Frau diesen Raum 2002 eröffnet. Inzwischen gehört zu dem Projekt auch eine Galerie, aber das ganze versteht sich für hiesige Verhältnisse als non-profit Unternehmen.

Abseits vom Boom versammeln sich hier regelmässig interessante Einzelpositionen und Gruppenprojekte mit einem leichten Schwerpunkt in Sachen südchinesischer Kunstszene. Merkmal von den sehr durchdachten Begleitpublikationen ist, dass Hu Fang sie weniger als Kataloge, sondern als künstlerisch bis theoretisch eigenständige, ergänzende Diskursmedien begreift. So bin ich nicht nur mit unserem Interview zufrieden, sondern habe auch ein Büchlein von ihm und Hans-Ulrich Obrist erworben (ein bekannter europäischer Kurator/Kritiker).

Inzwischen wurde der Raum, eine Art umfunktionierte Bürohausetage mit weißen Wänden, immer voller und das lokale Fernsehen vom Kanal für Ausländer hatte mich entdeckt, weshalb man nach dem Künstler gleich mal die Langnase interviewte…Xu Tans Arbeit „Keywords“ ist ein schon zwei Jahre andauerndes, fast soziologisches Projekt, in dem er über 100 KünstlerInnen und andere Menschen interviewte und die Gespräche dann anschließend auf bestimmte Schlüsselwörter hin durchforstete. Im „Vitamine Creative Space“ stellte er an einer Wand die Interviews aus, die bis auf die „Keywords“ jedoch geweisst wurden, dann eine Doppelprojektion bei der man auf der einen Seite ihn, auf der anderen jeweils einen Interviewpartner sprechen sieht, wobei ebenfalls nur die Schlüsselworte zu hören sind, während die Erklärungen vollständig nur in den englischen Untertiteln mitzulesen sind, wo die Schlüsselwörter zusätzlich in chinesischen Zeichen nochmals auftauchen. Das Ganze ist ähnlich wie ein Duden oder ein kleines Wörterlernbuch auch als Begleitpublikation zu haben.

Ansonsten waren noch einige Tische mit Tischdecken aus Keywords und den ausgelegten verschriftlichten Gesprächen zu betrachten. Insgesamt also eine eher konzeptionelle Arbeit, die aber gerade für mich ihren Reiz hatte – bin ich doch täglich darauf angewiesen mit wenigen Schlüsselwörtern durchzukommen.

Schönerweise fanden sich bald noch weitere Künstlergrößen und sogar der Istanbul-Biennale-Kurator Hou Hanru ein. Letzterer war wenig zugänglich, ich habe ihm immerhin mein Kärtchen geben können. Dafür war Yin Yilin, einer meiner Lieblingskünstler mindestens ebenso nett wie Hu Fang und ist bereit, mir demnächst einige Fragen zu beantworten. Mein Eindruck ist, dass die Guangzhouer Szene sehr bodenständig und reflektiert ist, wenig gestresst vom großen Hype in Beijing und auf ihre beharrliche Art mehr zu sagen hat, als andere.

Nach einem gemeinsamen Abendessen, bei dem ich an den Lippen der niederländischen Kuratorin Marianne Brouwer klebte (sie hat 1997 eine sehr gute Installationsausstellung zeitgenössischer chinesischer Kunst in Breda organisiert, die ich untersuche), sind wir dann in einen erst vor einigen Monaten eröffneten Ausstellungsraum namens „Ping Pong“ weitergezogen und haben die dort versammelten Werke von Guangzhouer und San Franciscoer jungen KünstlerInnen angeschaut. Es handelte sich zwar nicht um schlechte Arbeiten, hatte aber eher den Charme einer bunt gemischten Examensabschlussklasse.

Hier traf ich dann endlich auch meine Mitkollegiatin Birgit (sie promoviert über chinesische zeitgenössische Installationskunst und ist als ausgebildete Sinologin obendrein sehr China erfahren), ihre Freundin Sabine (eine Kunst-Beraterin aus Peking) und eine weitere Freundin, Patricia (die ein deutsche Kultur vorstellendes Projekt der Deutschen Botschaft leitet). Gemeinsam haben wir dann den Abend auf Shamian ausklingen lassen.

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